AlGf Zwischenruf: Lasst uns über den Westen reden!
AlGf Zwischenruf (15. April 2023)
Vom 21. bis zum 23. März 2023 fand an der OvGU Magdeburg die Jahrestagung der AG "Sprache in der Politik" in Kooperation mit der AlGf zum Thema "Ost-West-Konflikte. Interdisziplinäre Perspektiven auf den Diskurs über Deutschland und die Welt" statt.
Die international besetzte Tagung stieß auf großes gesellschaftliches und mediales Interesse. Das MDR Fernsehen berichtete ebenso von vor Ort wie Deutschlandradio Kultur (hier zum Nachhören). Jana Hensel schrieb für die ZEIT einen ausführlichen Artikel zum erstarrten Ost-West-Diskurs, in dem sie auch auf die Diskussionen der Tagung eingeht.
Ergänzend zu diesem Text erschien in der ZEIT ein Gastbeitrag von Kersten Sven Roth, den Sie - mit freundlicher Genehmigung der ZEIT, für die wir uns herzlich bedanken - hiermit als "AlGf Zwischenruf" zum Wochenende nachlesen können.
Lasst uns über den Westen reden!
Seit 20 Jahren untersuche ich nun linguistisch den Ost-West-Diskurs, und seitdem habe ich mehrere Jahre im Osten gelebt und gearbeitet. Das macht mich, den im Westen Sozialisierten, nicht zum "Ostdeutschen", aber: Ich verstehe die Wut über Ignoranz, Überheblichkeit, Selbstzufriedenheit und Ungebildetheit des westlichen Blicks auf den Osten durchaus, auch wenn mich meine wissenschaftliche Tätigkeit zunächst einmal zur nüchternen Analyse zwingt.
So wird zwar gerne alles und nichts mit Ost-West-Differenzen erklärt, wenn es gerade passt, das Thema selbst schafft es aber nur selten ganz oben auf die Agenda des medialen Interesses. Ein Gedenktagsthema, das Redaktionen pflichtbewusst abarbeiten und das die Forschungsförderung weitgehend ignoriert. Schließlich habe sich das doch längst "erledigt", hörte man schon Mitte der Neunzigerjahre. Das ist der aus anderen Kontexten gut bekannte "Schlussstrich"-Topos, der hellhörig machen sollte. Denn Debatten werden in funktionierenden Öffentlichkeiten nicht beendet. Sie entwickeln sich.
Zugegeben: Für den Diskurs über Ost und West gilt Letzteres kaum. Der reflexhafte Verweis auf die "DDR-Sozialisation" verliert auch nach 30 Jahren gesamtdeutscher Geschichte offenbar nicht an Plausibilität. Und dass der Osten das Andere, das Defizitäre und das Belastende für ganz Deutschland ist, bleibt eben unumstößliche Prämisse. Dabei ist das Normalnull des Westens, von dem aus man Abweichung bestimmen könnte, gar nicht definiert. Die Figur funktioniert umgekehrt: Was man als "ostdeutsch" markiert, wird dadurch automatisch zur Abweichung, gilt also nicht für den Westen. So erscheint jeweils das schlichte Gegenteil als der westdeutsche Normalfall.
Rechtsradikalismus? Ein ostdeutsches Problem, also eines, das das "eigentliche" Deutschland gar nicht hat. Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine? Laut Umfragen mehrheitlich im Osten zu finden und allein schon deshalb eine abweichende und defizitäre Haltung. Das sind Mechanismen des Diskursausschlusses, deren Homogenisierungswirkung für den öffentlichen Diskurs einer pluralistischen Demokratie schädlich, ja gefährlich ist.
Was ist zu tun? Für die linguistische Gesellschaftsforschung, auch meine eigene, gilt es, sich vom gut erforschten hegemonialen Mediendiskurs zu lösen und Diskursstränge "jenseits der Bühne" ernst zu nehmen, denen wir uns bisher kaum systematisch gewidmet haben. Alltagsdiskurse "normaler" Menschen etwa. Eine methodische Herausforderung, aber vermutlich erweisen sie sich als deutlich differenzierter als die Mediendaten.
Und wie lässt sich politisch und medial weniger stereotyp über den Osten sprechen? Die Antwort lautet: gar nicht. Hören wir doch stattdessen einfach mal eine Weile auf, über den Osten zu sprechen, und sprechen wir über den Westen. Machen wir einen halben zu einem ganzen Diskurs. Schauen wir nicht weiter wie das Kaninchen auf die Schlange nur auf jene Diskursmuster, mit denen sich der Westen den Osten "erfindet".
Wir benötigen endlich einen ethnografisch offenen Blick auf die Merkwürdigkeiten des Westens und ihre durchaus auch belastenden Auswirkungen auf den Osten und Gesamtdeutschland. Wir müssen den Westen entnormalisieren. Es ist nicht die Aufgabe eines auf empirische Daten angewiesenen Diskurslinguisten, alternative Diskurse zu erfinden. Ich wage dennoch ein paar Striche einer Skizze, worüber zu sprechen wäre.
Über den Westen als jenen Teil Deutschlands, in dem ein vermeintlich liberales Bürgertum für die eigenen Kinder aufwendig – von der katholischen Grundschule über das altsprachliche Gymnasium bis hin zur privaten Hochschule – Bildungseinrichtungen auswählt, in denen die soziale und nicht zuletzt auch ethnische Segregation gewahrt bleibt.
Über jenen Teil Deutschlands, in dem heute 80-jährige Kleinbürger, die Nutznießer einer ersten großen Erbwelle sind, glauben, dass die Einfamilienhäuser, die sie bewohnen, und die Reisen, die sie sich mehrfach im Jahr leisten, Ergebnis einer besonders großen Lebensarbeitsleistung sind.
In dem seit jeher eine sehr weit rechte Variante des politischen Konservativismus existierte – vorwiegend in der Union beheimatet, an deren rechter Flanke nichts geduldet werden sollte –, die dann in Form des fast ausschließlich westdeutschen Führungspersonals als "Flügel" der AfD in den politisch verwaisten Osten exportiert wurde. Und dort nun dem "ostdeutschen" Wähler angelastet wird.
In dem gesellschaftliche Schlüsselfunktionen in den Hinterzimmern von Clubs verschachert werden, die sich durch elitäre Aufnahmerituale hermetisch allem sozialen Wandel verschließen. Gerne als karitativ getarnt oder – im Rheinland, vielleicht dem Westen des Westens – auch als Karnevalsvereine, die häufig bis heute nicht einmal Frauen als Mitglieder aufnehmen. (Man begründet diesen Verstoß gegen den Geist des Grundgesetzes mit "Tradition". So nennt man die historische Prägung des Westens durch die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts.)
In dessen bürgerlich-esoterischen Vorstädten die "Querdenker" und ihre fundamentale Systemkritik entstehen konnten, für die dem traditionell impffreudigen Osten die Milieus zunächst vollständig fehlten. Auch das ein Export.
Und schließlich über jenen Teil Deutschlands, in dem "Klimakleber" SUV-Fahrer zu wahrem Hass provozieren können. Womöglich weil sie – so twitterte der Umweltwissenschaftler Christian Reinboth neulich – "unter der Erkenntnis, dass die ganze auf Produktion und Konsum fixierte Lebensleistung ökologisch falsch war", ähnlich stark leiden, "wie ehemalige DDR-Bürger*innen unter der Aberkennung ihrer Leistungen und Statussymbole".
Moment: Den Hass auf die "Letzte Generation" gibt es doch auch im Osten! Richtig. Und Rechtsradikalismus auch im Westen. Erst ein vervollständigter Diskurs wird mittelfristig ein fruchtbarer sein und uns langfristig voranbringen.
Kersten Sven Roth
Hinweis:
Das Format AlGf-Zwischenruf will pointiert Perspektiven der linguistischen Gesellschaftsforschung aufzeigen. Es handelt sich um persönliche Anmerkungen des zeichnenden Mitglieds aus dem AlGf-Team.
Bei diesem "Zwischenruf" handelt es sich um den Wiederabdruck eines Gastbeitrags, der in der ZEIT No° 15 vom 5.4.2023 erschienen ist. Wir danken für die Genehmigung durch die ZEIT.
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