AlGf Zwischenruf: Die eigenen Fehler - über die Gefahren eines naheliegenden Topos
AlGf Zwischenruf (26. Februar 2022)
Die eigenen Fehler - über die Gefahren eines naheliegenden Topos
Mit einem Statement zum völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die souveräne Ukraine hat der Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder einmal mehr für heftige Kritik gesorgt. Darin schreibt der Ex-Kanzler, der durch wichtige Funktionen ganz persönlich eng mit der russischen Staatswirtschaft verquickt ist, einerseits zwar Russland die Verantwortung für den Krieg in Europa zu, ergänzt dann aber: „(…) es gab viele Fehler, auf beiden Seiten“. Man kann gut verstehen, dass diese Aussage ausgerechnet aus Schröders Feder als unangemessene Relativierung empfunden wurde. Und doch hätte der Satz den Diskurs sehr bereichern können, wäre er von jemandem geäußert worden, dem man mehr guten Willen unterstellen kann. Denn der derzeitig allgegenwärtige Geschlossenheitsappell, der seltene Schulterschluss zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und sogar europäischen Regierungen, den nicht einmal Corona zu erzwingen vermochte, hat auch seine Gefahren.
In aller Deutlichkeit: Gebot der Stunde ist die eindeutige Positionierung gegen den Aggressor Putin, der nicht nur ein Land, sondern die demokratische Idee selbst angreift, die er in seinem eigenen Staat längst niedergeschlagen hat. Und doch liegt der Vorstellung, auch im politischen Diskurs sei derzeit nur Geschlossenheit und nicht ebenso selbstkritischer Rückblick gefragt, auch eine Art tieferliegenden Musters zu Grunde, für das die Rhetorik den Ausdruck „Topos“ geprägt hat: ein „Gemeinplatz“, ein typisches Denk- und Argumentationsschema, das unmittelbar Plausibilität stiftet, sich bei genauerem Hinsehen aber keineswegs als gültig erweisen muss. Menschen bilden sich ihre Meinungen und Deutungsmuster, zumal, wenn es um Ungeheuerlichkeiten wie das Geschehen in der Ukraine geht, nicht voraussetzungslos, nicht durch rationale Analyse und originelle Schlüsse. Sie greifen zurück auf das, was plausibel erscheint, weil man es tausendfach gehört und weil es einem auch im Alltag immer wieder Orientierung gegeben hat. In Pascal Mercies Roman „Perlmanns Schweigen“ heißt es über solche Erklärungen: „Der Satz steht nicht mehr zur Disposition. Er ist ein innerer Fixpunkt, eine Konstante, ein Träger im Gerüst.“
In diesem Fall lautet der Topos: Dort, wo die große Schuld des einen außer Frage steht, sind die Fehler der anderen irrelevant. Nun sind Topoi für sich genommen weder richtig noch falsch, häufig können sie sogar ganz unterschiedlichen politischen Positionen für ihre jeweilige Begründung dienen. Aber es lohnt sich immer, sie zu bemerken und kritisch zu betrachten. Das gilt auch und gerade angesichts der Verbrechen des russischen Präsidenten, deren Zeugen wir gerade werden. Ob es Fehler des Westens gegeben hat und welche, ist Gegenstand historischer und politologischer, auch journalistischer Analysen. Es ist linguistisch nicht zu beantworten. Denkbar wäre ja aber durchaus, dass solche Analysen nicht zuletzt helfen werden, schon jetzt Wege zum weiteren politischen Vorgehen zu finden, wenn die Waffen wieder schweigen werden und die Welt dennoch kaum sicherer geworden sein wird.
Aus Sicht der linguistischen Gesellschaftsforschung aber liegt die hauptsächliche Gefahr des Topos in etwas anderem: Er wird denjenigen das Gefühl von Bestätigung verschaffen, die uns alle seit langem in einer „Meinungsdiktatur“ wähnen, in der man bestimmte Dinge nicht sagen dürfe – und die in Teilen ohnehin schon länger große Bewunderer des Tyrannen im Kreml sind. Eben deshalb sollte das Kernprinzip der Demokratie – Rede und Gegenrede gerade dort, wo es um das Handeln des eigenen Gemeinwesens und nicht primär gegen einen äußeren Feind geht – nicht leichtfertig und nebenbei in Frage gestellt werden.
Es stimmt leider: Die Wahrung dieses Prinzips nützt heute nicht den Familien, die in diesen Stunden in den U-Bahn-Schächten ukrainischer Städte Zuflucht gesucht haben, weil einem waffenstarrenden Nachbarregime ihr mutiges demokratisches Projekt missfiel, und denen unsere Anstrengungen in diesen Tagen in aller erster Linie gelten müssen. Aber es wie aus Versehen zur Disposition zu stellen, könnte unser nächster Fehler werden.
Kersten Sven Roth
Hinweis:
Das Format AlGf-Zwischenruf will pointiert Perspektiven der linguistischen Gesellschaftsforschung aufzeigen. Es handelt sich um persönliche Anmerkungen des zeichnenden Mitglieds aus dem AlGf-Team.
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