Lautstarkes Schweigen

Es gibt ja das Klischee vom ewig redenden, aber nichts sagenden Politiker. Die Sondierenden von GRÜNEN und FDP – Baerbock und Habeck, Lindner und Wissing – sagen dieser Tage auch wenig. Aber sie reden eben auch nicht.

Sprachwissenschaftlich gibt es da nicht viel zu tun, könnte man meinen. Weit gefehlt. Die Tatsache, dass Schweigen „(…) ein materielles ‚Nichts‘ darstellt“, so schreibt die Linguistin Sina Lautenschläger, „bedeutet weder, dass es keine kommunikative Funktion hat, noch dass es als Gegensatz des Sprechens anderen Regeln unterworfen ist.“

Wie lautstark man schweigen kann, wurde tatsächlich selten so eindrucksvoll vorgeführt wie jetzt von den Protagonisten der beiden „kleinen“, nun durch das Wahlergebnis in die vorrangige Machtposition geratenen Parteien. Denn bei näherem Hinhören reden sie natürlich sehr wohl. Sie reden übers Schweigen und machen so deutlich, wie es interpretiert werden soll: als Sinnbild eines neuen Politikstils, der die Fehler von 2017 vermeiden will und zu einer guten Lösung – natürlich: für das Land! – führen soll. Als nun wiederholt aus Unionskreisen Informationen aus den Sondierungen mit FDP und GRÜNEN nach außen drangen, war mit diesem demonstrativen Schweigen das Feld schon so gut bereitet, dass deren knappe öffentliche Rüge wegen des „Sondierungs-Leaks“ (Tagesspiegel) per Tweets ausreichte, um Laschets Truppen erneut dilettantisch wirken zu lassen.

Wenn man bedenkt, dass Transparenz und das Informationsrecht der Bürgerinnen und Bürger ja ansonsten durchaus zu den hochgeschätzten demokratischen Prinzipien zählen, mag es überraschen, dass die Rechnung aufzugehen scheint: Das „Schweigekartell“ (SPIEGEL online) wird ganz offensichtlich genau so interpretiert wie beabsichtigt: als Zeichen politischer Seriosität. Und spätestens das zeigt, dass strategisches Schweigen eben tatsächlich genauso funktionieren kann wie strategisches Sprechen.

Wie geschickt man bei solch demonstrativem Schweigen zudem mit verschiedenen Codes und Zeichensystemen spielen kann, zeigt jenes scheinbar spontane Selfie, das die vier Frontleute in einer konzertierten Aktion gleich zu Beginn ihrer Sondierungen verbreitet hatten. Man darf wohl annehmen, dass ihnen dabei das Meme-Potenzial des Bilds sehr bewusst war, haben doch gerade diese Parteien im Wahlkampf offenkundig gerade auch von ihrem Wissen über die Funktionsweise politischer Kommunikation in sozialen Medien profitiert – in Form einer Stimmenmehrheit bei den Jungwählerinnen und -wählern.

Zusammen mit dem bei allen in jeder Silbe identischen lakonischen Text ikonisierte das Bild der vier gut gelaunten Personen an geheimem Ort (und mit geschlossenen Mündern) eine unmissverständliche Botschaft:

Von uns hört ihr nichts. Denn wir sind schon bei der Arbeit.

Kersten Sven Roth

 
Hinweis:
Die Rubrik „Zwischenruf“ will pointiert Perspektiven der linguistischen Gesellschaftsforschung aufzeigen. Es handelt sich um persönliche Anmerkungen des zeichnenden Mitglieds aus dem AlGf-Team.

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