Die Chance eines beinahe übersehenen "Trotzdem"
Ob die Wahl eines AfD-Lokalpolitikers zum höchsten politischen Beamten im sowohl hinsichtlich seiner Fläche als auch in Bezug auf seine Einwohnerzahl kleinsten Landkreis Ostdeutschlands all die Aufregung wert ist? Politisch mag man das diskutieren, ein Diskursereignis ist es allemal. Ein Anlass für den rechtsextremen Landesverband zur Selbstdarstellung, für die etablierten Parteien einer, sich rhetorisch im Umgang mit dem zu üben, was im Zusammenhang mit den anstehenden Landtagswahlen zur viel größeren Herausforderung für die parlamentarische Demokratie zu werden droht.
Friedrich Merz hat, wohl reflexhaft und inzwischen auch vielfach kritisiert, mit der Ankündigung reagiert, sich (noch) stärker von den GRÜNEN abgrenzen zu wollen. Diese Aussage basiert auf der Präsupposition, der unausgesprochenen Voraussetzung also, den Wählerinnen und Wählern der rechtsextremen Partei sei schlicht nur nicht klar gewesen, dass auch die CDU zu den politischen Gegnern der GRÜNEN gehöre. Vergleichbare kommunikative Strategien wie der große Raum, den die CDU bei ihrem kleinen Parteitag neulich dem Thema „Gendern“ eingeräumt hat – weitgehend eine vom rechten Rand am Leben gehaltene Phantomdebatte – zeigen, dass man die Betonung der Abgrenzung innerhalb des demokratischen Spektrums in der Union gerade ernsthaft für eine Option hält. Diskursanalytisch ist das ein Missverständnis: Die Position des Kampfs gegen die vermeintliche Bevormundung der normalen Menschen durch linke Ideologien ist im öffentlichen Raum längst nicht mehr diskursives ‚Eigentum‘ der Union. Sie ‚gehört‘ längst der AfD, und wer sie nur wiederholt statt durch eine andere, eigene Sprache zu ersetzen, wird – so funktioniert das soziale Werkzeug Sprache – immer aufs falsche Konto einzahlen.
Aber dann gab es da auch noch Christian Lindner, der für Aufsehen gesorgt hat, als er – strategisch überlegt oder einer plötzlichen Eingebung folgend – bei einer Veranstaltung in Weimar sagte: „Es tut mir in der Seele weh, es zu sagen, aber im Notfall könnte man noch die Linkspartei wählen.“ Mit diesem Satz ist ihm gelungen, worum es im Grunde allen gehen muss: Er hat Aufmerksamkeit generiert für den Konsens, auf den parlamentarische Demokratien angewiesen sind: Diejenigen, die sich an die Spielregeln der Demokratie halten und ihre basalen Regeln respektieren wollen, können, selbst wenn sie sich einander ideologisch diametral entgegen stehen, Gegner sein, aber niemals Feinde. Tatsächlich ist dieses demokratische Mantra lange nicht mehr so prägnant formuliert worden (und Lindner hätte auch ohne den nachgeschobenen Hinweis, dies bitte nicht als Wahlempfehlung zu verstehen, nicht fürchten müssen, auch nur eine einzige Stimme aus der FDP-Wählerschaft an die LINKE zu verlieren).
Lindners Bonmot kam gut an. Merkwürdigerweise wurde aber in der Berichterstattung in vielen Fällen der Satz vor dieser Aussage weggekürzt, der aber doch die Prämisse formuliert, auf der sie aufbaut: „Niemand, der aus sozialpolitischen Gründen sagt, ‚ich bin nicht zufrieden mit der gegenwärtigen Politik‘, muss AfD wählen.“ Tatsächlich steht doch beides in einem logischen Verhältnis, das sich in etwa so reformulieren lässt: Auch wenn es natürlich möglich ist, sozialpolitisch unzufrieden zu sein mit der gegenwärtigen Regierungspolitik, ist dies trotzdem kein ausreichender Grund, eine rechtsextreme Partei zu wählen, denn es gibt andere, demokratische Alternativen. Linguistisch betrachtet ist das eine konzessive Konstruktion: Etwas wird zugestanden – hier die Möglichkeit der politischen Unzufriedenheit –, eine scheinbar naheliegende Konsequenz aber gleichzeitig abgelehnt. Ein „Trotzdem“.
Der mittelfristige Wert des rhetorischen Überraschungseffekts, den Lindners Äußerung hervorgerufen hat, könnte weniger in ihrem nur scheinbar kühnen zweiten Teil liegen als im ersten, weil der das Bewusstsein dafür schärfen kann, dass es ja nach wie vor – im Osten wie im Westen – durchaus eine große Zahl von Menschen gibt, die offenbar genau nach der Logik dieses „Trotzdem“ handeln. Man darf annehmen, dass dies zumindest für die – auch in Sonneberg – große Zahl der Nichtwählerinnen und -wähler gilt: Eine Mehrheit der Sonneberger hat weder den CDU- noch den AfD-Kandidaten gewählt – sondern gar nicht. Es ist insofern ein von medial-diskursiver Aufmerksamkeitslogik irregeführter Tritt in die Falle der extremen Rechten, sich immer von Neuem ausgiebig mit der Frage zu beschäftigen, wie die AfD-Wählenden zurückzugewinnen seien, von denen doch kaum in Zweifel stehen kann, dass sie schlicht mit faschistischen Positionen keine Berührungsängste haben. Um die Nicht-Wählenden muss es gehen, die sich offenbar von den demokratischen Parteien nicht gesehen und repräsentiert fühlen und sich dennoch (noch) für ein verzagtes „Trotzdem“ entschieden und ihre Stimme nicht der AfD gegeben haben.
Wählen ist dabei letztlich nur eine punktuelle Konsequenz, die sich in Balkendiagrammen darstellen lässt. Lösen lässt sich das Problem am Wahltag nicht. Es liegt tiefer, denn die Vermutung liegt nahe, dass wir die Stimmen derjenigen, denen es so geht, auch im Diskurs zu selten hören, weil sie weder über die Apparate der etablierten Parteien noch über die längst professionalisierten Verstärkermedien der Rechten verfügen. Über ihre Unzufriedenheit können wir nur spekulieren. Ihre Ideen und Überzeugungen nicht einmal erahnen – die der AfD nämlich scheinen es so wenig zu sein wie die der Demokraten. Im Osten spielen da die schwierigen Erfahrungen der letzten dreißig Jahre eine große Rolle. Aber letztlich ist der Osten nur der Seismograph für ganz Deutschland.
Medien – aber auch die anderen Instanzen, die in demokratischen Öffentlichkeiten die Aufgabe und Verpflichtung haben, echte Diskursräume für alle zu schaffen und auch die hörbar zu machen, denen die diskursive „Voice“ (J. Blommaert) fehlt, also allen voran die Kunst und die Wissenschaft – sind in diesem Sinne fast mehr noch als die politischen Akteure selbst gefragt, diesen Stimmen Raum zu geben. Vermutlich wäre Vieles, was sie zu sagen haben, wichtig und ernst zu nehmen.
Genau darin, im ausdrücklichen Zugeständnis, dass es wert und Pflicht ist, diesem stimmlosen Unbehagen mit respektvollem Interesse zu begegnen und ihm hörbaren Raum zu verschaffen, liegt das eigentliche Potenzial der von Lindner in Weimar so leichthin angedeuteten Rhetorik des unbedingt Demokratischen.
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Kersten Sven Roth