Nur linguistische Belege?

Deutschland hat ein Antisemitismusproblem. Ein rechtsradikales, ein pseudo-religiöses – einerlei. Nicht erst die neuerliche Gewalt gegen Synagogen hierzulande, ausgelöst durch die neue Gewaltspirale im Nahen Osten, macht das deutlich. Aber wo fängt Antisemitismus an?

Schon ein paar Tage vor den aktuellen Ereignissen hat ein Talkshow-Disput eine öffentliche Diskussion um die Frage ausgelöst, was berechtigterweise Antisemitismus genannt werden darf und was nicht: Luisa Neubauer, eine der Hauptprotagonistinnen von „Fridays for Future“ in Deutschland, hatte im Gespräch mit dem CDU-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Armin Laschet bei Anne Will den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten und derzeitigen CDU-Bundestagskandidaten Hans-Georg Maaßen der Verbreitung antisemitischer Codes („Globalisten“) beschuldigt und von Laschet eine Distanzierung gefordert.

Das lehnte dieser ab und hat nun im Interview mit ProSieben etwas nachgeschoben, das aus Sicht einer linguistischen Gesellschaftsforschung nicht unkommentiert bleiben kann. Er habe Maaßen nie als Antisemiten wahrgenommen und:

„Wenn man so einen harten Vorwurf – gerade in diesen Tagen, wo wir echten Antisemitismus erleben – aufstellt, braucht man andere Belege als solche linguistischen.“

‚Linguistisch‘ meint, so dürfen wir vermuten, hier nicht ‚linguistisch‘ (sprachwissenschaftlich), sondern schlicht: sprachlich. Laschet unterscheidet also zwischen ‚Sprache‘ auf der einen Seite und ‚Wirklichkeit‘ – hier: „echtem“ Antisemitismus – auf der anderen.

Ganz unabhängig von der Causa Maaßen hat diese Trennung eine große argumentative Tradition und ist gerade deshalb höchst gefährlich.

Gegenfrage: Wenn man ein antidemokratisches und diskriminierendes Weltbild wie den Antisemitismus nicht an der Sprache erkennen kann – woran dann? Innere Haltung und Denken sind nicht unmittelbar zugänglich. Wir schließen sie aus sprachlichen Äußerungen und Handlungen. Das gilt selbst dort, wo antisemitische Gewalttaten begangen werden: Ohne sprachlich-kommunikative Begleithandlungen – vom Bekennerschreiben über den hasserfüllten Tweet bis hin zur skandierten Kampfparole beim Verbrennen von Flaggen – sind sie schlicht Verbrechen. Die ideologische Aufladung erfolgt durch Sprachhandeln.

Damit gilt auch umgekehrt: Die Notwendigkeit, Antisemitismus zu bekämpfen, kann und darf nicht mit temporärem Polizeischutz für Synagogen beginnen, sondern muss bei Gegenrede gegen jede Form antisemitischen (wie anderen diskriminierenden oder rassistischen) Sprechens ansetzen. Weil dieses Sprechen eben keineswegs nur tauglicher ‚Beleg‘ für Antisemitismus ist, sondern seine primäre Existenzform. Für die langjährige Forschung der gesellschaftswissenschaftlichen Linguistik zu antisemitischen Texten ist diese Prämisse wie für jede Form der Diskursanalyse selbstverständlich: „Die Texte geben (…) Aufschluss über die Denkstrukturen, Einstellungen und Gefühle ihrer Verfasser.“ (Schwarz-Friesel/Reinharz, S. 4)

Viel wichtiger aber noch: Sprache formt Gesellschaft und gesellschaftliche Wirklichkeit – auch in diesem Fall. Wer es ernst meint mit dem Kampf gegen Antisemitismus, kommt nicht umhin, sich von antisemitischer Sprache abzugrenzen. Sie ist nicht ‚linguistischer Beleg‘, sondern – in den zu recht viel zitierten Worten aus Viktor Klemperers „LTI“  -: „Gift, das du unbewusst eintrinkst und das seine Wirkung tut“.

Denen, die das Gift bewusst streuen, wäre das ein Triumph!

Kersten Sven Roth

 
Hinweis:
Die Rubrik „Zwischenruf“ will pointiert Perspektiven der linguistischen Gesellschaftsforschung aufzeigen. Es handelt sich um persönliche Anmerkungen des zeichnenden Mitglieds aus dem AlGf-Team.

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