Die Rückkehr des Pathos
So düster die Zeiten sind, sie haben einen leuchtenden Stern hervorgebracht. Einen Star der politischen Kommunikation, in dem manche schon die eigentliche Zeitenwende sehen. Die Rede ist vom Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck. Ein Idol, dem nachzueifern sich lohnt, so dass etwa die Wirtschaftswoche uns sein Geheimnis zu lüften verspricht: „So reden Sie mehr wie Habeck“.
Die taz macht dabei unter der derzeit auch bei anderen beliebten Überschrift „Mehr Habeck wagen“ einen interessanten Gegensatz zwischen dessen Kommunikationsstil und dem seines Kanzlers auf: Während Habeck hemdsärmelige Handyvideos poste, glaube Scholz irrtümlich, auf etwas Pathos in einer Bundestagsrede setzen zu können. Das klingt plausibel auf den ersten Blick. Habecks direkte Ansprache, die Ehrlichkeit, die man zu spüren glaubt und die er durchaus auch betont, sowie die oft unprätentiöse Sprache („Alter!“) wirken bisweilen so kumpelhaft und unministeriell, dass es einleuchtend scheint, sie einem inszeniert wirkenden Pathos lobend gegenüberzustellen.
Die linguistisch-rhetorische Analyse indes sieht wohl etwas anders aus. Nach klassisch-rhetorischer Lehre kann, wer überzeugen will, die Rationalität seines Publikums ansprechen (Logos) oder über die affektive Ebene zu wirken versuchen. Dabei wiederum spielen einerseits Affekte eine Rolle, die dafür sorgen, dass wir der Kommunikatorin vertrauen und glauben wollen, ihr wohlgesinnt und offen für ihre Positionen sind (Ethos) – und eben solche, die uns aktivieren, erregen, etwas in uns auslösen, das uns im Idealfall diejenigen Konsequenzen ziehen lässt, die beabsichtigt waren (Pathos).
Habeck beherrscht ohne Frage alle drei. Er ist ein guter Erklärer, der komplexe Themen wie die Energieversorgung eines komplex global vernetzten Landes so darstellen kann, dass wir glauben, zu verstehen, worum es geht. (Dass solche „Erklärungen“ berechtigterweise immer perspektiviert sind, zumal dann, wenn sie von politischen Verantwortungsträgerinnen und -trägern stammen, sollten wir dabei freilich nie aus dem Blick verlieren.) Die hochgeschobenen Hemdsärmel, das Handybild, das uns erzählt, dass hier jemand keinen Wert auf Inszenierung legt – und dies perfekt inszeniert! –, macht uns für diese Erklärungen aufnahmebereit.
Vor allen Dingen aber beherrscht Habeck eben gerade die großen Affekte und es ist dabei schon kein Zufall, dass er fast ausnahmslos mit betont ernster Miene in die Kamera schaut, wenn er zu uns spricht: Seine viel beachtete Rede vor dem BDI begann er damit, zu bekennen, ihn – den Wirtschaftsminister – beschäftigten in diesen Zeiten eigentlich gar nicht primär die Interessen der Wirtschaft, vor der er sprach. Nein, das, was ihn beschäftige, seien die schrecklichen Schicksale der Menschen in der Ukraine, von denen er beim Joggen in einem Podcast – und offenbar nicht etwa als Minister und Vizekanzler in den morgendlichen Lagebesprechungen – bisweilen höre. Einige der ergreifendsten davon deutet er an. Wie könnte man eindrücklicher die stärksten menschlichen Gefühle aktivieren und so nicht zuletzt die eine oder andere Diskussion angesichts dieser menschlichen Dimension obsolet machen? Die Art, wie Habeck das macht, hat man in der deutschen Politik seit langem nicht mehr gehört. Und auch das Ethos der Hemdsärmeligkeit schlägt ja dann in Pathos um, wenn es nicht mehr wie üblich dezent daher kommt, sondern wie bei Habeck bewusst betont wird. Dann nämlich lautet die Botschaft: Keine Zeit für politische Nebelkerzen. Die Lage ist ernst. Wir müssen jetzt zusammenhalten und schonungslos offen miteinander sein. Das ist Krisenrhetorik voller Pathos.
Tatsächlich: Mit Habeck kehrt das Pathos zurück in die Sprache der politischen Mitte Deutschlands, wo es – anders als in Frankreich oder den USA – aus guten historischen Gründen lange skeptisch betrachtet und nur in geringen Dosen genutzt worden war. Und es ist durchaus interessant, dass auch das andere grüne Schwergewicht in der Bundesregierung, Annalena Baerbock, dieses Register erstaunlich gut beherrscht und bei Gelegenheit ausgiebig nutzt. In ihrer Rede vor der UN-Generalversammlung etwa. Die schloss sie nicht etwa mit einem politisch begründeten Appell, sondern indem sie mit ein paar wenigen, gut gesetzten Pinselstrichen ein Bild zeichnete, das die Tragweite der politischen Entscheidung verband mit dem Eindruck ihrer Alternativlosigkeit für alle diejenigen, die weniger Politikerin geworden als Mensch geblieben sind: „Wenn wir nach der Abstimmung nach Hause gehen, werden wir alle wieder mit unseren Kindern, unseren Partnerinnen, unseren Freunden, unseren Familien am Tisch sitzen. Und dann muss jeder einzelne von uns ihnen in die Augen sehen und ihnen sagen, wie wir uns entschieden haben.“
Die Rückkehr des Pathos muss nichts Schlechtes sein. Die Rhetorik hält alle drei Wirkungsdimensionen für unverzichtbar. Angela Merkel war das personifizierte Antipathos, Olaf Scholz ist es auch. Man sollte ihnen das nicht vorwerfen. Angemessenheit ist die oberste rhetorische Tugend und Kevin Kühnert hat sicher recht, wenn er sagt: „Wenn Olaf Scholz anfangen würde, wie Robert Habeck zu reden, würden alle denken, es sei Karneval." Mit dem neuen Pathos von Baerbock und Habeck kommt also eine Farbe in die politische Kultur Deutschlands zurück, die ihr durchaus guttun kann. Sie kann unter Umständen helfen, eine zunehmend empfundene Kluft zwischen Berufspolitik und Bürgerschaft zu überbrücken. Glorifizieren aber muss man sie auch nicht. Gerade in Kriegszeiten birgt Pathos Gefahren. Und so wichtig Sprache für das Funktionieren von Demokratie ist: Am Ende gelten nicht Stilfragen, sondern – gerade in Zeiten wie diesen – bedachte politische Entscheidungen.
Kersten Sven Roth